Verfall in uns selbst

Das Jahrhundertproblem massiver, Europa überrollender Einwanderung gehört zu den Verfallserscheinungen, für die in letzter Instanz der Individualismus verantwortlich ist.
Er ist es nämlich, der den Migranten gesellschaftlich, über die öffentliche Meinung, Tür und Tor geöffnet hat. Eine Richtungsänderung, die den gesellschaftlichen Verfall stoppen würde, ist aber nur dadurch zu erreichen, dass der Individualismus überwunden wird.Selbsterkenntnis und Ausmerzung des Individualismus

Fakt ist, wir alle sind im Individualismus groß geworden. Unsere Gesellschaft ist, so seltsam es klingen mag, bis ins Mark selbst individualistisch, und so erzieht und sozialisiert sie, drängt dem in ihr Aufwachsenden ihre individualistischen Ansichten, Meinungen und Werte auf. Diese als Erwachsener zu überwinden ist mit Schmerzen verbunden. Als Selbstüberwindung fühlt sich diese Überwindung nämlich genau so an, als ob man an sich selbst, am eigenen Leib und ohne Betäubung, herumoperierte.Nur die Wenigsten bringen nach erfolgreicher Erkenntnis des Individualismus, die vornehmlich eine Selbsterkenntnis ist, auch den Mut auf, ihn aus sich auszumerzen. Auch ist es nicht einfach, Herr über ihn zu werden. Der Individualismus besitzt zahlreiche, unter sich selbst wiederum sehr verschiedene Erscheinungsformen. Während es z.B. keine Mühe macht, vielleicht auch gar nicht nötig ist, sich einer bestimmten von ihnen zu entledigen, ist das eigene Selbst, die moralische Person, die einer ist, aufs innigste mit einer ganz anderen Erscheinungsform desselben Individualismus verwoben.Menschenrechte sind individualistisch

In einer demokratischen Gesellschaft sind die Menschenrechte, zumindest auf dem paragraphenbedruckten Endlospapier, unverhandelbar. Jeder scheint mit ihnen einverstanden. Die Menschenrechte aber gehen ganz bewusst vom Individuum aus, und das ist auch der Grund, weswegen sie verstanden und mit besonderen Gefühlen belegt werden. Dem Individuum allein steht eine „Würde“, ein „Recht auf Leben“, ihm stehen allerlei „Freiheiten“ sowie das „Recht auf Eigentum“ zu.Laut den Menschenrechten besitzt das Individuum einen nur ihm eigenen, unermesslichen Wert – es selbst soll dieser Wert sein. Nun ist aber dieses angeblich so kostbare Individuum ein etwas zu sehr zufälliges und beschränktes, als dass ihm daraus eine Würde oder ein „Wert“ entstehen könnte. Die Absurdität aber, dass man uns als Individuum auf die Altäre hebt, schmeichelt uns ungemein. Schließlich heben wir uns selbst auf den Altar, den wir uns eigens zum Zweck der Selbstvergötterung errichtet haben.Tatsächlich sind die Menschenrechte weniger „gut“ oder „richtig“ aufgrund derjenigen Lehren, die die „Menschheit“ aus ihrer „schrecklichen Vergangenheit“ gezogen haben könnte – diese dienen lediglich zur nachträglichen Untermauerung und Rechtfertigung längst vorgefasster „Menschenrechte“ –, sondern weil sich in ihnen der Individualismus fortgehend selbst gegenübersteht.Individualistische Selbstlosigkeit

Ganz fälschlicherweise wird „Individualismus“ gleichgesetzt mit Opportunismus, Selbstsucht und Eigennutz, aber das sind auch nur Erscheinungsformen. Aus der Nähe betrachtet sind Dinge, die aus einem „selbstlosen Interesse“ heraus motiviert sind, purer Individualismus, oft sogar die reinste Selbstsucht: Altruismus, Philanthropie, Solidarität, Kosmopolitismus, Multikulturalismus, Internationalismus, Pluralismus, „Interkulturalität“, „Toleranz“, „Einfühlungsvermögen“ – also das, was größtenteils in die Rubrik „Mitleid“ gehört – sowie „Verständnis“ bzw. „Verständigung“.Dieses angeblich „selbstlose Interesse“, sei es am „Mitmenschen“ oder am Menschen schlechthin – der „Menschheit“ –, das den genannten moralischen Haltungen zugrunde liegen soll, bezeichnet in Wahrheit die Projektion des eigenen Interesses an sich selbst auf andere. Oder, wie die von dieser ihrer Selbstlosigkeit und Uneigennützigkeit Begeisterten zum Besten geben, den Andern.In seiner Funktion als Projektionsleinwand der eigenen Selbstigkeit steht auch hier wieder das Individuum im Mittelpunkt. Die Eitelkeit und die Selbstherrlichkeit, die dabei offenbar werden, gehen auf Kosten der eigenen Urteilskraft sowie auf Kosten wahrer, nämlich konkreter und wesensmäßig verbundener menschlicher Gemeinschaft.Im kosmopolitischen Pazifismus sind alle Menschen „gleich“

Dem pazifistisch gesinnten Kosmopolitismus wird der Mensch als solcher – in Wahrheit ein abstraktes Menschentum, das es so nirgends gibt – derart zum Höchstwert, dass er sich immer mehr in diese seine sentimentale Art, zu fühlen und zu werten, hineinsteigert und verrennt. Der kosmopolitische Pazifist entwertet in der Folge alle überindividuellen Zusammenhänge, die eigentlich für das Individuum als einem ganzen Menschen grundlegend wären: Volk, Staat, Familie.Besonders gut lässt sich das an der Familie, und zwar an der Rolle des „Vaters“, darstellen. Abzüglich einigen, das Wort und/​oder die Person „Vater“ begleitenden Gefühlen, Erlebnissen und Erinnerungen, ist der „Vater“ nicht mehr und nicht weniger „Mensch“ als der unbekannte Fremde und Neuankömmling. Der einzige, im übrigen zu vernachlässigende Unterschied ist der, dass die Vaterperson als zufälliger Erzeuger und/​oder erziehungsberechtigter Vormund die beliebig änderbare Bezeichnung „Vater“ erhält – dem kosmopolitischen Pazifisten sind wirklich alle Menschen „gleich“, und zwar gleich wert oder unwert, was auf dasselbe hinausläuft. Dass der Individualist sich hier angemaßt hat, Gott, Gesetzgeber, oder, noch besser: göttlicher Gesetzgeber, zu spielen, liegt hier grell zutage.Lebensmüder Helfer– und Weltretterkomplex

Beim individualistischen Verwirrspiel mit der „Menschheit“ wird der „Andere“ – der in Wirklichkeit der X-​beliebige ist – deswegen überbewertet, und somit fetischisiert, weil der Individualismus bei neurotischen Gemütern, den Grüblern und Grüblerinnen, in Hypersensibilität und Sentimentalismus ausschlägt. Beides zusammen genommen ergibt den „Humanitarismus“ oder Menschheitswahn mit dem dazugehörigen obligatorischen Helfer– und Weltretterkomplex.Dieser Größenwahn, der sich in seiner reflexiven und dennoch gedankenlosen „Freigiebigkeit an Jedermann“ selbst gefällt, bezeichnet einen pathologischen Zustand der von ihm befallenen Einzelnen: sie sind lebensmüde. Sind diese lebensmüden Einzelnen, die Volk, Staat und Gesellschaft rücksichtslos anzuzapfen bereit sind – zum Wohle der „Menschheit“ versteht sich – auch noch viele, wortführend oder sonst wie gesellschaftlich tonangebend, stecken sie die ganze Gesellschaft mit ihrer Lebensmüdigkeit an. Die „Gesellschaft“ ist nun humanitaristisch aufgeweicht und selber, als ganzes lebensunfähig geworden. Davon unbekümmert laben sich die Humanitätsdusler auch weiterhin an ihrem lebensmüden Samaritertum, welches ihnen die ersehnten geistigen Ergüsse und Selbstgenüsse beschert.Opportunismus der liberalistischen Ansichten

Schnell erledigt ist das, was man gemeinhin mit „Individualismus“ verbindet: der Opportunismus. Dazu gehört die „gesunde Prise“ Strebertum, der Egoismus, genau so wie der vierschrötige Eigennutz, der die Gesellschaft bloß aus ihrem Nutzen für das Individuum aufrecht erhalten möchte. Kurz, alle liberalistischen Ansichten.Die Gesellschaft aber ist mehr als ein nützlicher Verein, sie ist die sittliche Grundlage der Individualität sowie die geistige Unterlage der Persönlichkeit. Das für sich selbst festzuhalten und den Leuten den besonderen Wert der gemeinsamen Verbindung aller zu einem Volk Zugehörigen wieder zu Bewusstsein zu bringen, sollte die längst notwendige Wende bringen. Daran können wir schon jetzt arbeiten, und sei es nur um selbst zu einer besseren, nicht individualistischen Einsicht zu gelangen.Für die Gegenwart ist dabei recht wenig zu erhoffen, noch weniger zu erreichen, für unsere Nachkommen aber umso mehr. Und an unsere Nachkommen zu denken, sich für sie, für ihre ureigensten Rechte einzusetzen und schon jetzt für sie zu sorgen, ohne dabei etwas für sich herausholen zu wollen, macht das Wesen wahrer Selbstlosigkeit aus, nur das ist gute und richtige Opferbereitschaft.

von Carlos Wefers Verástegui, Blauenarzisse

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